Von Bastille bis Waterloo. Wiki
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Vincennes.[]

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Vincennes, altes, ins Viereck gebautes Schloß mit 9 großen Thürmen, eine französische Meile von Paris, nebst einem großen Thiergarten, uud fürchterlichen Gefängnissen für Staatsgefangene, welche 1660 vollends zu Stande gebracht worden. In ältern Zeiten diente das Schloß als königl. Residenz. Es gehörte nachmals der verwittweten Herzogin von Orleans; wo auch deren Tochter, die 1742 verstorbene verwittwete Königin von Spanien, einige Zeit residirt hat. Der dabey liegende Lustwald le Bois de Vincennes dient den Parisern im Sommer zu einer der angenehmsten Promenaden. Der Flecken Vincennes hat 1809 Einwohn., und ist iezt der Hauptort eines Cantons im Departem. der Seine, Bezirk Sceaux.


Château de Vincennes.


Von Reisenden.[]

Louis-Sébastien Mercier.[]

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Der Thurm zu Vincennes.

(Aus Mercier's neuestem Gemälde von Paris, 2ter Band. Leipz. 1789.)

Freien Fußes (sagt Hr. M.), hab' ich die Zugbrücke jenes furchtbaren Thurms betreten, der sonst ein Staatsgefängniß war, und nun zerstört ist. Die Schilderhäuser standen leer; die Zugbrücke wurde nicht hinter mir aufgezogen. Ich lächelte beim Anblick der Trümmern durch die sich die ersten Ausgänge erweitern. Ich ging in diese Kerker hinein, die mit dreifachen eisernen Thüren verwahrt sind. Wie mancherlei Vorstellungen übernahmen nicht meine Seele beim Anblick dieser Schlösser und Riegel, dieser eisernen Betten, an welchen noch Ueberreste von Ketten herunterhingen! Ueberall drang ich hin, als hätte eine unsichtbare Gottheit die abscheulichen Aufseher verscheucht gehabt.

Ich besah diesen Thurm, ohne Gefangener zu seyn; ich führte eine schöne Frau. Ich machte hier den unumschränkten Herrn. Im Scherz schloß ich meine Begleiterin, ihrer Klagen ohnerachtet, unter den dreifachen Thüren ein, deren Riegel stärker als ihre niedlichen Arme waren. Mit der Stimme einer Flehenden ließ ich sie sechs Minuten lang, durch die ungeheuren Schlösser hindurch, um Gnade bitten, und als ich nun die lettre de cachet wieder aufhob, mußte sie mir mit einem Kusse dafür lohnen. Doch bald konnten wir nicht mehr scherzen; nach und nach ergriff uns Schaudern. "Antwortet mir, öde Mauern, rief ich unwillkührlich aus; hallt von dem Aechzen wieder, das ihr so mannichfaltig gehört habt. Lebensüberdruß und Verzweiflung haben hier gewohnt. Und wozu diese eiserne Thüren? Waren denn keine Menschen hier eingeschlossen, sondern Riesen, die sie hätten erbrechen können? O hätte einmal ein nachläßiger Gefangenwärter sie aufzuschließen vergessen, diese Gewölbe wären Ugolino's vermauerter Kerker für euch geworden." Diese schwermüthigen Betrachtungen vernichteten die Gewalt der Schönheit; und der Ausdruck des Mitgefühls verscheuchte von dem Munde meiner Begleiterin den namenlosen Zauber ihres Lächelns. Zitternd drückte sie mir die Hand, als wollte sie mir sagen:"ach! wenn Sie hier wären!" Es wurde düster in unseren Seelen.

Niemals habe ich einen Mann wegen seiner edlen Schriften oder wegen seines männlichen Muthes im Gefängniß gewußt, daß ich nicht an seinem Leiden Theil genommen, seine Ketten mitgefühlt hätte. Wenn ich Abends allein bin, und die Lampe mir zu meinen Arbeiten leuchtet, dann versetze ich mich zu ihm, spreche ihm Muth zu, ermuntere ihn einige Jahr zu leiden, damit man ihn nach Jahrhunderten noch loben und ihm danken möge: seine Denkungsart wird dann die meinige, und ich mache mir beinahe Vorwürfe, daß ich nicht auch Fesseln trage. Hier waren der Kardinal von Retz und der große Condé ebenfalls in Gefangenschaft. Hier haben Richter, Kerkermeister und Henker große Männer geplagt, die vielleicht zu wichtigen Revolutionen gemacht waren. Unterdessen daß Montesquieu schrieb, mußten sich Menschen lebendig hinter unbeweglichen Thüren einschließen lassen. Welch ein fürchterliches Recht die Menschen einzusperren! Eine Stimme sagt: "er soll eingezogen werden!" und ein Kerker öffnet sich und verschlingt uns.

Hier, sagt' ich weiter zu mir selbst, haben Stolz, Rachsucht, Egoismus, Eigensinn, Irrthum, Dummheit, in Zeiten die nicht so glücklich als die unsrigen waren, ein Liedchen, ein Sinngedicht, ein fliegendes Blatt bestraft; und wer weiß, wie weit die Verläumdung manche muthvolle Schrift mit dem Namen Pasquill entehrt hat!

Ich stieg dann, auf halbeingefallenen Treppen, bis in die Thurmspitze hinauf. Die Kuppel ist bombenfest; als hätte man den Gefangenen auf den Trost vom Donner der Bomben erschlagen zu werden, rauben wollen.

In allen Kerkern fand ich Spuren von der traurigen Spielerei des Mangels an Beschäftigung. Leute die sonst in ihrem ganzen Leben nichts gemacht hatten, von solchen Leuten sah ich an den Mauern Gemälde nach Art der Wilden. Eins von diesen Gemälden fiel mir vorzüglich auf; ich fand es erhaben. Der Gefangene hatte verschiedene Thürme von einem Gefängnisse gezeichnet, und auf jeden Thurm einen Kopf. Da er nicht mehr über das Dach sehen, noch gesehen werden konnte, welches doch sein Wunsch war, so hatte der Unglückliche sich in Gedanken über den Thurm, in dem er saß, erhoben. Diese Köpfe hatte er auf den Thurmspitzen fünf- bis sechshundertmal nach einander abgeändert. Gewiß, so einfach und so rührend hat sich noch nie der Kummer eines Gefangenen ausgedrückt.

Andere hatten Crucifixe gemalt; entweder aus Andacht oder zur Aufmunterung zur Geduld.

Und ich, ich sagte ganz leise zu mir selbst: wo ist wohl die great charter, die Grundsätze der englischen Verfassung, und weiland auch der unsrigen? Wo ist die Akte habeas corpus, auf welche die Engländer so stolz sind? -- Richelieu's Schatten erschien mir in einem Winkel des Kerkers; und ihm zur Seite der Pater Joseph, der Ex-Kapuziner, den man den Erfinder der Spione und der lettres de cachet nennen kann, so weit dehnte er den Gebrauch von beiden aus. Beiden schienen sich mir näher zu drängen, und jenes furchtbare raison d'etat, das Schrecklichste in der Sprache, zu wiederholen.

Leise sagt' ich weiter zu mir selbst: die Engländer und Franzosen sind doch von einem Punkte ausgegangen, als sie ihre politische- und Criminalverfassung gründeten: denn in jener berühmten Zusammenkunft der Etats-generaux im Jahr 1355 unterzeichnete König Johann eben die Urkunde, die noch jetzt die Grundfeste und den Stolz von England ausmacht. So haben sich also die beiden benachbarten Nationen, die von einem Standorte ausgegangen waren, im Wesentlichen von einander entfernt. Doch meine artige Gesellschafterin wurde gewahr, daß ich zu ernsthaft wurde; sie schloß mich also in die Arme und sagte: "lassen Sie uns gehen!"

Von diesem durchbrochenem Thurme sieht man die Bastille. Der berühmte Howard, einer von jenen seltenen Menschen, die ihr Leben der Menschheit widmen, und ihre zu sehr vergessenen Rechte in Schutz nehmen; Howard hat alle dem Despotismus gehörigen Kerker durchsucht. Grüfte die vor jedermann verschlossen waren, hat er durchspäht; über seinen Anblick sind Unglückliche erstaunt, die funfzehn Jahre lang nichts anders gesehen haben, als die sprachlose, furchtbare Gestalt ihres Kerkermeisters. Nur in die Bastille konnte der unerschrockne Freund der unglückseligen Gefangenen nicht eindringen; hier half ihm weder seine Geschicklichkeit, noch sein menschenfreundlicher Eifer; so streng wird ihr Eingang und ihr Ausgang bewacht.

Dieses vorausgesetzt, könnte man die Entweichung des Herrn de la Tude, die unglaublich scheinen könnte, wenn sie nicht so ganz erwiesen wäre, unter die Wunderwerke rechnen. Sie ist einzig in ihrer Art; und wenn man bedenkt, wie viel Mühseligkeit, Arbeit, Angst und Schrecken sie gekostet hat, so möchte man wirklich Sterben für süßer halten, als Befreiung aus einem so gefahrvollen Gefängniß. Wenn also der Drang nach Freiheit auf so mühselige, langwierige und doch so ungewisse Mittel führt, welche Quaal mag nicht Beraubung jener Freiheit seyn, für die man das Unmöglich versucht? Denn der glückliche Erfolg dieses erstaunenswürdigen Gefangenen, ist eine wahre Ausnahme von den Wahrscheinlichkeiten der menschlichen Kräfte.

Ich gab meiner artigen Begleiterin die Erzählung von dieser Entweichung zu lesen. Seitdem verlangt sie schlechterdings ich soll sie in der offenen und eingerissenen Bastille herumführen, wie in dem halbzerstörten Thurme, wo keine Gefangene mehr sind. Ich habe ihr versprochen mein Möglichstes dazu beizutragen.

Im Jahr 1562 fiel der Blitz auf einen von den Thürmen des Arsenals, und sprengte ohngefähr zwanzig Centner Pulver in die Luft. Die Festung, die von Karl V. herrührt, blieb verschont. Sie steht noch, wiewohl in unsern Schriften zerstört; aber zertrümmern muß sie noch einmal!


Quellen.[]

  1. Geographisch- Historisch- Statistisches Zeitungs-Lexikon von Wolfgang Jäger, Professor der Geschichte zu Landshut. Landshut, bei Philipp Krüll, Universitätsbuchhändler. 1811.
  2. Auserlesene Aufsätze zur geographischen, statistischen, politischen und sittlichen Länder- und Völkerkunde. Eine Quartalschrift aus den neuesten und besten Reisebeschreibungen gezogen. Berlin, bei Arnold Weber.
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